Hoppla. Jetzt gibt es ein Buch mit Bildern, von denen niemand die Geschichten, die Personen oder die Fotografen kennt. Das muss kurz erklärt werden: Der Filmemacher Lee Shulman kaufte völlig arglos bei eBay einen Satz anonymer Familienfotos. Einfach nur so. Aber so einfach ging das nicht weiter. Er war vom emotionalen Wert dieser Lebensschnipsel so beeindruckt, dass er mehr davon wollte. Es sind fast 700 000 Aufnahmen geworden, die er mit dem 2017 gegründeten THE ANONYMOUS PROJECT einsammeln konnte. Die Bilder kamen von Spendern und Händlern. Die meisten davon aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Negative und Diapositive. In den wehmütigen Farben des frühen Kodachrome. Das Faszinierende ist, dass Fotografierte und Fotografen sich gekannt zu haben scheinen. Zu identifizieren sind sie nicht. Aber sie dokumentieren Situationen, die sich in ihren Inhalten in vielen Lebensgeschichten wiederholt haben. So wurde aus diesen vielen Bildern ein Album von Menschen und Vermutungen von Erinnerungen, die beim Ansehen in Gedanken die Bilder durch eigene Erlebnisse des Betrachters überdecken können. Der TASCHEN VERLAG hat daraus ein Buch gemacht, ein Album des Menschseins, ohne Fremdheit. 
Das ist eine faszinierende Abkehr vom Gewohnten. Die wie auch immer zu begründende Wichtigkeit von Bildautor und Inszenierung verliert zu Gunsten einer anonymen Wichtigkeit gezeigter Situationen. Denn anders als im Jetzt des konstanten Konservierens von Situativem mit Hilfe der modernen Bild-Staubsauger des Lebensstils sind die Bilder auf Film mit anderer Intention und Intensität entstanden. Und sie wurden auf die eine oder andere Weise als Originale bewahrt, weil sie Bestandteile der Identität von Leben waren und sind. Auch wenn die hier gesammelten Bilder irgendwann ihre ‚Heimat‘ verloren haben. Sie sind nicht im Nirwana fremdgesteurter Daten-Clouds untergegangen. Mit diesem Buch sind sie in ein Fotoalbum des Sharing von heute projiziert worden… 
Die Autoren der Bilder sind unbekannt, ebenso die abgebildeten Personen. Die Situationen könnten Erinnerungen wach rufen. Konkret ist zu den Bildern zu sagen, dass der TASCHEN VERLAG sie für diesen Bericht zur Verfügung gestellt hat. Bildunterschriften? Unromantisch. Denn sie würden die Phantasie der Betrachter beeinträchtigen… 
Lee Shulman, in London geboren, studierte an der University of Westminster. Er drehte einige preisgekrönte Werbeclips und Musikvideos, bevor er im Jahr 2017 The Anonymous Project ins Leben rief, das sich zu einer der weltweit bedeutendsten Sammlungen von Amateur-Fotografie-Dias entwickelte. Die Bilder wurden bereits in Paris und Mailand ausgestellt und werden beim renommierten Rencontres D’Arles Photography Festival in Frankreich präsentiert. 
Midcentury Memories. The Anonymous Project / Lee Shulman / Hardcover, 23,7 x 31,6 cm, 280 Seiten / ISBN 978-3-8365-7584-3 / Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch