Mythen lassen es zu, fordern geradezu heraus, die Verbindung zur Wirklichkeit des Jetzt herzustellen. Frau Brigitte Bierlein, Bundeskanzlerin der Republik Österreich, zitiert in ihrer Rede Herrn Markus Hinterhäuser,den Intendanten der Salzburger Festspiele, der Mythen das Archiv unserer Welterkenntnis nannte. Die Eröffnungsreden des Bundespräsidenten der Republik Österreich, Herrn Alexander Van der Bellen, und der Bundeskanzlerin Österreichs, Frau Brigitte Bierlein, mahnen. Diese Reden sind bedeutsam. Nicht nur hinsichtlich jener obskuren Kräfte, die im dunklen Gestern des letzten Jahrhunderts marodierend die Gesellschaft um die einzig mögliche Zukunft des Guten für alle zu bringen versuchen. Die Reden fordern Willen und Bereitschaft zu konstruktivem Gestalten. Als Anhaltspunkt zusammenfassend aus dem dritten Akt von Idomeneo: Vor dem Königspalast schildert der Oberpriester dem König die Schreckenstaten des Ungeheuers und bedrängt ihn, dem Volk nun endlich den Namen des Opfers zu verkünden. Idomeneo gibt nach und nennt den Namen seines Sohnes. Im Poseidontempel wird die Opferung vorbereitet: Idamante, der soeben das Ungeheuer besiegt hat, soll von seinem eigenen Vater getötet werden. Im letzten Moment will sich Ilia vor die Klinge werfen, um das Leben des Geliebten zu retten. In diesem Augenblick ertönt die Stimme des Orakels, das verkündet, Poseidons Zorn werde besänftigt, wenn Idomeneo die Krone an Idamante abgebe und Ilia Königin werde.
Die Eröffnungsrede des Bundespräsidenten der Republik Österreich, Herrn Alexander Van der Bellen: „Ich habe ja schon vorab gehört, dass Peter Sellars das Thema Klimakrise ansprechen wird. Ich möchte, ich muss daran anschließen. SN-NEWSLETTER Mehr Wissen mit den SN-Newslettern. Gerade, wenn man so durchs Land und auch unseren Kontinent Europa reist, wenn man sich einfach nur umsieht, dann ist es immer wieder beeindruckend, in welch schönem Land, auf welch einzigartigem Kontinent wir leben. Diese Erde, dieser Kontinent ist „gut zu uns“. Aber wie gut sind wir zu unserer Erde? Bei diesen Salzburger Festspielen hören, sehen und sprechen wir über Mythen, über alte griechische Mythen. Die Klimaveränderung ist kein Mythos, sie ist real. Sie ist hier, wir können sie greifen mit unseren verschwitzten Händen. Wir alle verfolgen die Nachrichten. Wir alle hören fast täglich, wie ein Rekordmonat den nächsten jagt, wie ein heißestes Jahr in der Geschichte der Aufzeichnungen das nächste ablöst. Wir alle verfolgen in den Nachrichten, wie aus der Klimakrise langsam ein Klimanotstand wird, der sich unaufhaltsam zur Klimakatastrophe ausweiten kann. Wir hören von Waldbränden, Plastikmüll im Meer, Artensterben, auftauenden Permafrostböden, nicht erreichten Klimazielen bei der Reduktion von Treibhausgasen. So sprechen die Klimagötter zu uns -um im Bild der Mythen zu bleiben. Sie sprechen schon lange zu uns, aber wir wollten sie nicht hören. Seit 100 Jahren gibt es seriöse Klimaforschung, seit 50 Jahren werden die Warnungen dringlicher. Man könnte meinen, wie in einer griechischen Tragödie steuern wir in einem irreversiblen und nichtlinearen Prozess auf den Abgrund zu. Und doch gibt es auch Anlass zu Hoffnung. Denn in den Nachrichten tauchen auch, täglich ein bisschen mehr, andere Meldungen auf. Wir hören Meldungen darüber, was unternommen wird. Wir hören wie junge Menschen auf die Straße gehen und Veränderung einfordern. Wie sich neue Bewegungen bilden, wie Fridays for Future. Wir hören und sehen, wie politische Parteien, denen man das bislang nicht unbedingt zugetraut hätte, den Klimaschutz auf ihre Fahnen heften. Nun, wie ich neulich sagte: Jeder Mensch kann etwas dazulernen. Und was wir alle, dazulernen sollten, ist: dass wir uns nicht begnügen dürfen damit, den Nachrichten zuzuhören. Nein, wir müssen anfangen, selber Teil der Nachrichten zu werden. Wir müssen die sein, die mitarbeiten an der Lösung und die aktiv die Zukunft unserer Menschheit sichern. Wir alle können und müssen konkret mithelfen. Damit meine ich auch Sie, geschätzte Vertreter der Banken! Finanzieren Sie nachhaltige Unternehmen und Projekte. Sie, liebe CEOs aus der Energiewirtschaft! Geben Sie nachhaltiger Energie den Vorzug. Sie, verehrte Chefs der Technologie-Konzerne! Arbeiten Sie daran, wie wir nachhaltige Lösungen technologisch realisieren können. Sie, liebe Hersteller von Lebensmitteln, aus Landwirtschaft, Industrie und Handel! Sorgen Sie dafür, dass unsere Nahrung klimafreundlich und ökologisch erzeugt werden kann. Und Sie, liebe Konsumenten und Konsumentinnen! Nutzen Sie, nutzen wir unsere Macht gemeinsam. So und damit Sie nicht glauben, dass ich meine Sparte ausnehme – Sie, liebe Politikerinnen und Politiker! Schaffen Sie die nötigen Rahmenbedingungen. Sorgen Sie für Gesetze, verbindliche Pläne und vor allem schaffen Sie einen parteiübergreifenden Konsens: Dass es hier um nicht weniger als das Überleben der Menschheit geht. Denn wenn wir weiterleben wollen, werden wir so nicht weitermachen können. Meine Damen und Herren, machen wir uns nichts vor: Die Erde braucht uns Menschen nicht. Sie wird sich auch dann noch um die Sonne drehen, sollte kein Lebewesen mehr auf ihr existieren können. Wird sie halt ein paar Grad wärmer sein, was macht ihr das. Wenn hier irgendwer irgendwen braucht, dann wir die Erde! Lassen Sie uns gemeinsam daran und dafür arbeiten. „Gemeinsam“ ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Wort. Denn die Lösung liegt in der Gemeinschaft. Und in vielerlei Hinsicht gilt das, was ich über Umwelt, Erde und Klima gesagt habe, auch für die Europäische Union. Sie ist trotz aller Kritik im Detail gut und nützlich, Ja unverzichtbar für die europäischen Kleinstaaten. Sie trägt das Potenzial in sich, der Schlüssel und die Antwort auf die drängenden Fragen unserer Zeit zu sein. Denn keines der Themen, denen wir uns stellen müssen, sind von einem Staat alleine zu lösen. Aber alle sind in der Gemeinschaft, im Rahmen eines europäischen Weges lösbar: Klimaschutz: alleine nicht lösbar, gemeinschaftlich sehr wohl lösbar. Digitalisierung, insbesondere was die Gesetzgebung und Steuerbestimmungen betrifft: alleine nicht lösbar. Gemeinschaftlich sehr wohl lösbar. Migration: alleine nicht lösbar. Gemeinschaftlich sehr wohl. Wir müssen hier einen gemeinsamen europäischen Weg gehen. Wir müssen uns darum bemühen. Zudem: Wir, die im Weltmaßstab kleinen europäischen Staaten sind Spielball der Großmächte, wenn jeder Mitgliedstaat der Union nur sein eigenes Spiel verfolgt. Nur gemeinsam sind wir stark. All dies ist wichtig für uns, und damit wert, auch an diesem schönen Tag thematisiert zu werden. Meine Damen und Herren, Der rote Faden der Salzburger Festspiele 2019 sind die Mythen. Das ist bei Festspielen, die in ihr 99. Jahr gehen, auch eine Selbst-Thematisierung, denn ein Mythos sind diese Festspiele ganz gewiss. Das Eintauchen in die großen Erzählungen der Menschheit, die Geschichten von Orpheus, Medea, Ödipus oder Salome bedeuten aber keineswegs eine Flucht aus der Zeit und eine Abwendung von der Gegenwart. Ganz im Gegenteil: Die große französische Philosophin Simone Weil schrieb einmal, wer aktuell sein wolle, müsse über das Ewige sprechen. Wir alle sind gefordert. Doch keiner von uns ist überfordert. Nehmen wir unsere Zukunft in die Hand. Auch das lehren uns die großen Erzählungen. Meine Damen und Herren! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Die Salzburger Festspiele 2019 sind eröffnet.“
Die Eröffnungsrede der Bundeskanzlerin der Republik Österreich, Frau Brigitte Bierlein: „Salzburg als Stadt braucht keine Erklärungen“ Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Sehr geehrter Herr Landeshauptmann, Sehr geehrter Herr Bürgermeister, Geschätzte Frau Festspielpräsidentin Rabl-Stadler, Verehrte Festgäste, Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Musikalisch theatralische Festspiele in Salzburg zu veranstalten, das heißt: Uralt Lebendiges aufs Neue lebendig machen; es heißt: An uralter sinnfällig auserlesener Stätte aufs Neue tun, was dort allezeit getan wurde“, so Hugo von Hofmannsthal im Jahr 1921 in „Die moderne Welt“. Salzburg als Stadt braucht keine Erklärungen. Salzburg ist weltbekannt und weltberühmt. Und die Festspiele tragen seit fast 100 Jahren maßgeblich dazu bei. Ein Vierteljahrhundert lang ist nunmehr eine Persönlichkeit für die beeindruckende Weiter-entwicklung, für den stetigen Ausbau der Qualität und für die internationale Reputation der Festspiele verantwortlich: Helga Rabl-Stadler begeht demnächst ihr 25-jähriges Jubiläum als Festspielpräsidentin. Ich darf Ihnen, liebe Frau Präsidentin, schon jetzt sehr herzlich zu diesem besonderen Jubiläum gratulieren und Ihnen von ganzem Herzen für Ihren wohl einzigartigen und beispielgebenden Einsatz danken! „Müsste ich Europa neu erfinden, würde ich mit der Kultur beginnen.“ Dieser schöne Satz stammt von Jack Lang, Professor für öffentliches Recht an der Universität Nancy und später, in den 80er- und 90er-Jahren, langjähriger französischer Kulturminister. Kunst und Kultur geben dem Mythos Europa eine Gestalt, die man nicht wegdenken kann. Es ist für mich eine große Ehre und Freude, heute hier in Salzburg bei der Eröffnung dieser Salzburger Festspiele Grußworte an Sie zu richten. Ohne Übertreibung kann ich hier sagen: Wir eröffnen heute das international wohl bedeutendste Festival der musikalischen und darstellenden Kunst. Salzburg ist einmal mehr Welthauptstadt der Kultur. Lassen Sie mich kurz auf das zum Ursprung führende Leitmotiv der heurigen Festspiele eingehen: Den Mythos. Sehr geehrter Herr Intendant, Sie schließen die mit dem Überthema „Macht“ 2017 begonnene, im Vorjahr mit „Passion“ fortgesetzte Trilogie heuer mit dem antiken „Mythos“ ab. „Mythen sind das Archiv unserer Welterkenntnis.“, darf ich Sie, Herr Intendant, zitieren. Sie alle kennen den Mythos von der Entstehung Europas, als Zeus in Gestalt eines Stieres – um seiner eifersüchtigen Gattin Hera zu entgehen – die schöne Europa über die Meere nach Kreta entführt hat. Die Erzählungen der Antike, von Idomeneo, Ödipus über Orpheus bis zu Medea zeigen, wie nahe die Festspiele am Menschen und am Menschsein sind. Daran hat sich seit der Zeit der Mythologie kaum etwas geändert: Es geht um die grundlegenden Empfindungen, die unsere Welt bis heute begleiten und in Zukunft wohl begleiten werden: Liebe, Leidenschaft, Macht, Trauer, Krieg, Verrat, Hass und Mord. Das Fremdsein von Medea, der aus Kolchis Geflüchteten, die vergeblich in Korinth um Asyl fleht. Idomeneo, der in furchtbare Seenot Geratene, den die Götter im letzten Augen-blick an der Opferung seines Sohnes hindern. Ödipus, der unwissend seinen Vater tötet, seine Mutter heiratet, sich des Augenlichts beraubt und ins Exil geht. Orpheus, dessen Gesang sogar die Götter der Unterwelt besänftigt. Kurzum: Die Mythen enthalten all das, was das Leben ausmacht: Den Logos und den Mythos, das Trennende und das Verbindende, das Alte und das Neue. Die Festspiele dienen dabei als immerwährende Inspiration und teils wohl auch als Provokation, geben Impuls zum Nachdenken und zum Schwelgen, stimulieren Geist und Sinne, reflektieren das Verhältnis zwischen Mensch und Natur immer wieder aufs Neue. Salzburg und die Festspiele haben einen großen Beitrag zu einer gemeinsamen europäischen Identität geleistet, lange bevor das gemeinsame Europa Wirklichkeit werden sollte. Vom „Glauben an den Europäismus“ sprach Hugo von Hoffmansthal. Kunst und Kultur sind nicht nur hübsche Verzierung, sondern im Gegenteil, unersetzlicher Teil des Menschseins und Ausdruck der uns gegebenen Sinne. Ich hatte das Glück, in einem Elternhaus, dem Kultur, Theater, Oper wichtig war, aufgewachsen zu sein. Ich hatte das Glück, in einem humanistischen Gymnasium hervorragenden Lehrern der Kunstgeschichte, der Musik und der Literatur begegnet zu sein. Kreativität und kritisches Denken werden auch durch die Kunst und durch die Kultur gefördert. Neues, Ungewöhnliches, auch Gewagtes und Verstörendes ist nötig, um die Weiterentwicklung einer mündigen Gesellschaft zu garantieren. Dass illiberale Tendenzen in der Kunst und in der Gesellschaft heute keine Chance mehr hätten, ist ein fataler Irrtum. Umso mehr zählt das Argument, dass Kunst und Medien Gegensätze in einer Gesellschaft benennen und auch provokante Meinungen toleriert werden müssen. Die Freiheit der Kunst ist umfassend und unteilbar. Das künstlerische Schaffen, die Vermittlung von Kunst sowie deren Lehre sind frei, heißt es im Artikel 17a des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger. Damit geschriebenes Verfassungsrecht auch gelebtes Recht bleibt, ist es für mich als ehemalige Verfassungsrichterin von besonderer Bedeutung, daran zu erinnern, dass wir immer wieder aufgerufen sind, die Grund- und Freiheitsrechte bedingungslos zu verteidigen. Ich bin optimistisch: Wenn es so etwas wie Lehren aus der Geschichte gibt, dann hat Europa einen durchaus beachtlichen Lernerfolg erzielt. Mit Fortschritten und Rückschritten. Aber im grundsätzlichen Bekenntnis zu gemeinschaftlichem Handeln und mit dem grundsätzlichen Willen zum Kompromiss. Denn der Weg vom Konflikt zum Konsens führt über den Kompromiss. Darin unterscheidet sich die Kunst von der Politik: Die Kunst darf – ja sie muss – auf den Kompromiss verzichten. Sie muss auch provozieren und verstören. Die Politik hingegen ist auf den Kompromiss angelegt und angewiesen. Ich darf versichern, dass Sie in mir und in der Bundesregierung über unsere Amtszeit hinaus glühende, stolze Befürworter und Mitstreiter für Freiheit und Vielseitigkeit der Kunst und vor allem für die Salzburger Festspiele haben werden!
Das Titelfoto ist von den Salzburger Festspielen bereitgestellt. Fotografiert wurde es von Frau Ruth Walz. Die weiteren Informationen sind den Verlautbarungen der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei, des Österreichischen Bundeskanzleramts und dem Bericht der Salzburger Nachrichten vom 27.Juli 2019 zur Eröffnung der Salzburger Festspiele entnommen.