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Götz von Bechtolsheim / Normalität mit Corona

Kurzer Prolog: Millionen von Virologen prusten ihr (wo auch immer gesammeltes) ‚Fachwissen‘ herum. Die wenigen professionellen Experten werden zurückhaltender, schlimmer, müde. Das Tragen von Masken mutiert von einer pragmatisch zu sehenden sinnvollen Vorsorge im Volksmund zu obskuren Floskeln. Politiker verkünden das Ende von Corona, genauso wie sie zu Beginn der Pandemie Masken als Teufelszeug darstellten und den Jackenärmel zum Abwehrinstrument der Wahl machten. Klar, Masken waren vergessen worden. Jacken hat doch so gut wie jeder. Was macht nun die Jackenärmel-hustende-und-niessende Gesellschaft? Ärmel ab, weil verseucht. Das rettet die Textilindustrie. Alle anderen wurden ja schon gerettet, sie haben es entweder noch nicht gemerkt oder sind nicht zu rettende Träumer. Corona wird lang bleiben. Als Virus hoffentlich nicht. Was könnte sich wie entwickeln im Zeitalter nach dem Auftreten des Virus? Götz von Bechtolsheim hat dazu Gedanken niedergeschrieben- und uns erlaubt, sie weiterzugeben.

Man stelle sich vor, Corona bleibt. Es gibt keinen Impfstoff (das Virus verändert sich). Wir müssen mit Corona leben, wie mit dem Grippevirus und vielen anderen Viren. Es gibt keine Zeit „nach“ Corona, die so ist (oder nicht) wie „vor“ Corona oder „während“ Corona, sondern wir leben seit kurzem in der neuen Normalität „mit“ Corona. „Ohne“ Corona ist vorbei. Was heißt das? Was ist das für eine neue Normalität mit Corona und was bedeutet sie?

Grundsätzlich: Abstand halten und Maske tragen ist die neue Normalität.

(Öffentlicher) Verkehr: Busse und Bahnen bekommen eine neue Bestuhlung im 45° Winkel. Man sitzt nicht nebeneinander, aber auch nicht hintereinander (Beinfreiheit) oder gar einander gegenüber, sondern versetzt wie beim Schrägparken.

Flugzeuge und andere „platzoptimierte“ Verkehrsmittel müssen ihre Kapazitäten reduzieren. Halbe Kapazität heißt doppelter Preis (evtl. mit leichten Abschlägen durch Gewichtsverlust). Fliegen wird (wieder) zum Luxus. Aber der Bedarf sinkt auch: Dass Zoom und Skype das Fliegen ersetzen können, hat ja nun jeder gelernt. An Stelle „offener“ Innenräume treten Inselkonzepte, wie es sie in den Flugzeugen der gehobenen Klasse teilweise schon gibt, aber konsequenter umgesetzt: Geschlossene Einzelplatz-Kabinen bieten (gegen Aufpreis) Wellness für zwischendurch. Massagestühle kennt jeder, jetzt kommen kabinengestützte Aromatherapie (oder Sauerstoff oder Thermo und natürlich auch Massage) dazu. Mit ein bisschen künstlicher Intelligenz (oder guten Sensoren) funktionieren auch Haare schneiden, schminken, maniküren und pediküren in der Plexiglaskabine. Das Ganze vollautomatisch in Bus und Bahn und Flugzeug, aber auch auf der Straße, in Einkaufszentren, im Kino.

Zoom und Skype ersetzen nicht nur das Fliegen, sondern auch die Langstreckenfahrt. Das Auto wird noch auf der Kurzstrecke eingesetzt, aber die Autobahnen werden deutlich leerer.

Ausnahme: Außerhalb der städtischen Ballungsräume gilt das Gesagte nicht, die Landstraße wird zur Langstrecke des Individualverkehrs. Dort liegen auch die neuen Schwerpunkte für den Ausbau der Infrastruktur (laden und tanken – was auch immer).

Auf dem „flachen Land“ kommt endlich das autonome Fahren: Auf festgelegten und definierten Routen fahren „führerlose“ Busse, allerdings in neuen „Ecosystemen“: Wer angesteuert wird, zahlt! Der Flughafenbus, der Rewe-Bus, der Museums- und Theater- oder Kinobus verbinden die Dörfer, bleiben für den Nutzer erschwinglich, retten dörfliche Gebiete vor der Verödung und stellen neue „public private partnerships“ dar.

Und in den Innenstädten heißt Abstand halten auch, neue Fußgänger-Regeln einzuhalten. Richtungs-Gehspuren, Kreuzungen, ggf. sogar Ampeln regeln den Verkehr der Fußgänger im Leben mit Corona. Ob es sogar Handynutzer-Wege braucht, wie in Japan? Entsprechende Regeln für Radfahrer gibt es bereits. Und der Boom der E-Bikes hat nichts mit Corona zu tun.

Einzelhandel und Gastronomie: Auch hier wird es durch Abstand und Maske deutlich luftiger und offener. Das heißt: Gastro wird großflächig. Nach dem Verschwinden von Tante Emma Läden zu Gunsten großflächiger Super- und Hypermärkte verschwinden auch Bistro, Bar und Eckkneipe – physical distancing braucht Fläche. Es entstehen großflächige Restaurationsbetriebe, die den Abstand wahren, sich aber trotzdem wirtschaftlich betreiben lassen. Zusammenschlüsse werden unvermeidlich. Für viele Innenstädte kann das weitreichende Konsequenzen haben, beispielsweise beim Denkmalschutz, um hinter den entkernten historischen Fassaden genau diese Großflächen-Gastronomie zu ermöglichen, die derzeit noch in individuellen Pizzerien, Cafes und „dem kleinen Türken“ nebeneinander (und dicht gedrängt) existieren. (Gilt entsprechend für den Einzelhandel!)

To Go bleibt bestehen. Das bedeutet für die Systemgastronomie, dass sie sich entscheiden muss: Drive In oder Fresstempel? In einigen Lagen gibt es keine Wahl. Das heißt: Mehr Ausgabefenster direkt zur Fußgängerzone – aber keine „Indoor-Bewirtung“ mehr, dafür ist schlicht kein Platz.

Auch im Einzelhandel wird mehr Platz gebraucht. Enge Gänge zwischen Palettenstellplätzen, wie es sie bei einigen der billigeren EH-Ketten noch gibt, werden deutlich breiteren Wegen zwischen den Regalen Platz machen müssen. Es wird auch bei Rewe, Edeka & Co. festgelegte Wege geben, Einbahnstraßensysteme wie bei IKEA. Und wer die Milch vergessen hat, muss eine der Querverbindungen finden, durch die er in den vorgegebenen Mäandermustern wieder zurückkommt. (Die POS Psychologen werden sich freuen – endlich können sie genau definieren, was wann wie präsentiert wird, wie es in der richtigen Reihenfolge riecht und wie es, ebenfalls in der richtigen Reihenfolge und Perspektive, beleuchtet ist.)

Autokauf, Autobesitz: Wegen der Infektionsgefahr von „vielfach benutzten“ Autos sinkt die Bedeutung von Car Sharing und auch den verschiedenen Mietmodellen. Wenn ich nicht weiß, wer eben noch das Auto gefahren ist, nehme ich das Auto nicht. Das eigene Auto erlebt ein Revival, der Individualverkehr boomt. Aber der Besitz eines Autos soll unkomplizierter sein – und vor allem kurzfristiger. Daher entstehen (und wachsen) neue Besitz-Modelle als „Flat“ oder „Rundum Sorglos Leasing“. Je kürzer die Laufzeit, desto besser: Fahrzeug- und Segment-Hopping nehmen stark zu. Wichtiger wird auch der kontaktlose Autokauf (oder Autoverkauf, je nach Perspektive). Von Konfiguration bis Probefahrt und Vertragsabschluss muss alles „kontaktlos“ gehen. Entsprechende Modelle gibt es, sie werden die neue Normalität: Lieferung des Vorführfahrzeugs bis vor die Wohnungstür, Schlüsselübergabe nur noch als Handy-Code usw. Ein bisschen von allem: Pop Up, Online und Offline – der sehr physische eigene Körper soll ja transportiert werden.

Die Antriebsart verliert an Bedeutung, weil sie in den kurzfristigen All-Inclusive-Paketen nicht mehr kostenrelevant ist, Antrieb wird Accessoire, ein Ausstattungsmerkmal, mehr nicht. Das eröffnet Chancen für „coole“ Antriebsarten wie synthetische Kraftstoffe oder Wasserstoff. Aber: Die Antriebsart wird nach verfügbarer (regionaler) Infrastruktur gewählt. Ohne Tankstelle kein entsprechendes Auto. Logisch. Zusatzservices werden enorm wichtig – Parken, Tanken, Streamen und Sharen müssen Teil des eigenen Autos sein, online, vernetzt, mobil. Teslas Bildschirme mögen zu groß, die Funktionen zu vollmundig (Autopilot) oder reine Gimmicks (Kaminfeuer) sein – vernetzt zählt, Felgen oder Schiebedächer sind nicht mehr relevant.

Neue Arbeitswelt: Was Zoom und Skype noch nicht können, kommt: Virtuelle Haptik. Klingt nach Science Fiction: Geräte, die das haptische Erlebnis von Oberflächen, Temperaturen oder Formen vermitteln (elektrische Impulse?), werden entwickelt und finden schnelle Verbreitung. Und die AR Brille wird zum Standard-Tool. Dadurch verlagert sich der (kontaktlose) Kauf/Verkauf noch mehr in den virtuellen Raum. Nicht nur von Autos, auch von Sportartikeln, Pflanzen oder Baumaterial – der Besuch bei Decathlon, Dehner oder Bauhaus wird überflüssig.

Schule: Für Schulunterricht, Studium und Lehre (ja, auch die „vergessenen“ Volkshochschulen) entsteht eine neue Normalität, eine Art „mixed reality“: Integrierte, also auf Plattformen organisierte und innerhalb eines funktionierenden, geschlossenen, aber vernetzten Ecosystems aufgesetzte Online Phasen werden zum Standard (nicht voneinander losgelöstes Flickwerk aus Schulportal, YouTube und Email, wie es zu Anfang der Corona-Zeiten oft traurige Realität war). Der Präsenzunterricht bleibt aber Hauptpfeiler für die Vermittlung von neuem Wissen, also dem Bereich, der auch pädagogische Qualifikationen des „Lehrkörpers“ erfordert. Durch die Abstandsvorgaben halbiert sich die Gruppenstärke in Klasse und Hörsaal. Dadurch entsteht im Schichtbetrieb ein Ganztagsunterricht – die Wochenwechsel werden sich nicht durchsetzen. Der Schichtbetrieb erfordert mehr Lehrer – einfach das Lehrpensum der bestehenden Lehrer auf zwei Schichten zu verdoppeln, ist keine Lösung. Im Bereich Infrastruktur an Schulen besteht ein großer (und wahrscheinlich teurer) Nachholbedarf. Beispiel: Zwar gibt es in fast jedem Klassenzimmer einen Wasseranschluss, aber kein warmes Wasser. Unter dem Aspekt der Hygienevorgaben ist das auf Dauer nicht tragbar. Und die Anzahl der WC durch Sperrung zu halbieren, ist ebenfalls keine dauerhafte Lösung.

Verkaufsprozesse, Digitalisierung im Handwerk: Die Bedeutung digitaler oder elektronischer Tools zu Arbeitsvorbereitung nimmt zu. An Stelle des Handwerkers, der zur Erstellung eines Angebotes ins Haus (!) kommt, um mit Zollstock, Waage oder Augenmaß die Anforderungen aufzunehmen, treten vermehrt elektronische Geräte oder Apps zum Messen. Dadurch sinken die Kosten, die Geschwindigkeit nimmt zu – aber auch die Vergleichbarkeit. Plattformen zur Auftragsvermittlung wachsen nur, wenn es ihnen gelingt, eine „vernetzte usability“ anzubieten (z.B. integrierte App als „Verlängerung“ der site). Online-Abfrageformulare, die vom Anfragenden das Stühleklettern mit dem Zollstock in der Hand verlangen, reichen nicht mehr aus.

Digitalisierung von „personal care“: Das Messen per App erreicht neue Dimensionen, wenn „nicht körperliche“ Messungen auf Basis von Bildern (KI) vorgenommen werden: Nährwerte von Kalorien über Fette bis Kohlehydrate anhand eines Fotos sind „im Kleinen“ bereits machbar – sie werden neuer Standard. Durch Vernetzung, z.B. mit Ernährungstabellen und Einzelhandel entstehen neue Ecosysteme, nicht nur für gesunde Ernährung, sondern auch für Kosmetik und Körperpflege oder personal fitness.

Digitalisierung von Verwaltung: Eigentlich nichts Neues mehr, aber bisher leider noch nicht wirklich verfügbar: Digitalisierte Verwaltungsprozesse von der eigenen Anmeldung bei der Gemeinde über die Anmeldung des eigenen Autos bei der Zulassungsstelle (der Gemeinde) bis zum digitalen (!) Einreichen oder Vorlegen von Unterlagen und Bescheinigungen wie Krankmeldungen (AU) beim Arbeitgeber per App sind Bereiche, in denen „mit Corona“ große und weite Sprünge erzielt werden: Formularserver, Identitätsnachweis, sichere Scanservices incl. pdf-Umwandlung online, aber auch Fotobücher oder Unfall-Dokumentationen laufen auf neuen Plattformen (Ecosystemen).

Digitalisierung im Gesundheitswesen: Das Messen „nicht körperlicher“ Elemente (von Pulsschlag und Temperatur über Iris-Scan bis zum einfachen, aber online gestützt interpretierbaren Foto) wird auch bei der ärztlichen Diagnose (Pickel oder Masern?) zum Standard. Dadurch werden die klassischen „Virenschleudern“, als die man Wartezimmer oft bezeichnen muss, die aber in „mit Corona“ Zeiten ebenfalls keine Berechtigung mehr haben, geleert und (zu großen Teilen) überflüssig. Ärzte (und Apps) teilen anonymisiert Daten und ermöglichen dadurch KI-gestützte Therapie-Empfehlungen selbst in abgelegenen „Landarzt-Praxen“.

Prozesse und Training – Change-Management als Herausforderung: Datenschutz und Datenspeicherung stellen organisatorische Herausforderungen dar, technisch sind sie gelöst. Die Implementation integrierter Prozesse (zur Ermöglichung der Ecosysteme oder Plattformen) ist eine deutlich größere Herausforderung, da sie ein „über den Tellerrand“ Denken und Handeln aller Beteiligten erfordert. Anschließend müssen die handelnden Personen entsprechend geschult werden: Wer bringt der Lateinlehrerin den Online-Unterricht bei, wer dem Arzt das Interpretieren der Daten? Gleiches gilt für Behörden und Verwaltung, z.B. in Krankenkassen. Aber auch Steuerberater und Finanzämter werden sich viel schneller auf die neuen Plattformen und Ecosysteme einstellen müssen, als „erhofft“. Die Aussicht, das käme ja erst, wenn man selbst schon im Ruhestand ist, wurde durch Corona zerschlagen. Und das Autokino kommt zurück! Auch für Gottesdienste und Wahlkampfveranstaltungen…

Ich hoffe, das Lesen hat ein bisschen Spaß gemacht.

Beste Grüße,

Götz v. Bechtolsheim

11.06.2020