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Erleben im Hier und Jetzt: Für eine neue Wahrnehmung im digitalen Zeitalter

Gedanken zum Flow zwischen Menschen, Medien, und der gebauten Umwelt.


Ein Beitrag von Professor Nikolaus Hafermaas, Managing Partner I Creation von Graft Brandlab.


Am Flughafen, in der U-Bahn, im Restaurant, bei der Arbeit und im Bett: unser Blick richtet sich meist auf ein kleines Display. Unser Wahrnehmungshorizont ist auf die Größe einer halben Postkarte geschrumpft. Hier spielt sich zunehmend unser Leben ab. Der Eintritt in die große, weite Welt der Kommunikation erfolgt durch ein digitales Mauseloch. Steht uns der Sinn nach höherer Auflösung, bleibt uns bislang nur der Griff nach einer sorgfältig desinfizierten VR-Brille. Inspirierende Erlebnisse spielen sich immer seltener am Ort des Seins ab und mehr an virtuellen Schauplätzen, an denen wir nur immateriell teilhaben können. Die Technologie dafür wirkt allerdings eher noch wie digitale Scheuklappen, low fidelity für unsere natürlichen Sinnesorgane.

Vorab: ich bin fasziniert von Digitalisierung. Was sie an innovativen Möglichkeiten der Kommunikation mit sich gebracht hat, ist einzigartig. Die Welt wurde zu einem Dorf. Doch der beschränkte Blick durch viereckige Bildschirme hindurch fordert seinen Preis: sinnliche Verarmung. Und daraus resultierend Anonymität, Vereinsamung, physische und psychische gesundheitliche Beeinträchtigungen.

Unser Zeitalter: Digitalisierung 2.0.

Die Pandemie war ein Brandbeschleuniger dieser Entwicklung. Zuerst der absolute Digitalisierungs-Hype, danach die Erkenntnis: Der Mensch ist und bleibt ein soziales Wesen. Die Sehnsucht nach persönlichen Erfahrungen wächst, während die digitalen Errungenschaften erhalten bleiben sollen. Und so befinden wir uns mitten in einem Umbruch, in der digitalen Revolution 2.0, in der das physische Erleben sich funktionell, sinnhaft und harmonisch mit digitalen Tools immer enger verbindet, um all unsere Sinne anzusprechen – für ein gesundes, nachhaltiges Leben.

‚Das probieren wir aus‘, dachten sich viele Unternehmen und präsentierten sich Anfang des Jahres auf der CES in Las Vegas, der größten Consumer Electronics Show der Welt. Was sich mir dort zeigte, war ernüchternd. Karge Räume mit QR Codes sollten Menschen dazu motivieren, virtuelle Räume zu erfahren – das Erlebnis scheiterte dann gerne mal an fehlerhaften App-Technologien. Allerdings gab es auch ein digital-analoges Highlight auf der Messe, das durch seine Klarheit den Nerv der Besuchenden getroffen hatte.

Ein Auto, das die Farbe wechselt, fordert unsere Wahrnehmung heraus.

Im Zentrum das BMW Modell iX Flow. Dahinter eine haushohe Medienfassade mit organischer Beschichtung. Langsam beginnen Schwarz-Weiß-Farbverläufe auf dem Fahrzeug und der Fläche sich rhythmisch-dynamisch zu einer Einheit zu verbinden. Das Auto in Sleep Mode, dann die Anmutung einer Tunnelfahrt. Ein Spiel aus Licht, Schatten und Bewegung. Das Auto als intelligent-emotionales Vehikel, harmonisch vereint mit seiner Umgebung. Und das alles mithilfe der E-Paper-Technologie „E-Ink“, wie sie in Kindle Readern zu finden ist. Nur für den Farbwechsel von Schwarz zu Weiß benötigt die organische Beschichtung Energie, ansonsten ist sie dank der natürlichen Umgebungshelligkeit stets für das Auge erkennbar und gleichzeitig lichtemissionsfrei und energieeffizient.

Die Media Installation für BMW auf der CES ist ein Beispiel dafür, dass wir uns von tradierten Sehgewohnheiten verabschieden müssen, um neue Reize zu schaffen und unsere Wahrnehmung neu zu schulen. Eine 3D-Erfahrung im Hier und Jetzt, haptisch und doch digital. Sie bringt das Menschliche, Empathische ins Spiel. Diese Verbindung von Medien, Objekt und Architektur begeistert mich schon lange und ich freue mich, mit Graft Brandlab an dieser Schnittstelle zwischen Technologie und Menschsein interdisziplinär gestalten zu dürfen. Auch beweist sie, wie der Einsatz von digitalen Medien mit einem geringen ökologischen Fußabdruck vereinbar ist, und so ein Klimaschutz-Potenzial in sich tragen kann.

Wenn das Digitale plötzlich greifbar wird, kann ein neues Gemeinschaftsgefühl entstehen.

Dank des technologischen Fortschritts befinden wir uns genau jetzt in der Lage, das Digitale mit dem Physischen zu verschmelzen. Es liegt an uns, den vielen Kunstschaffenden und genialistischen Ingenieur:innen, dem Ganzen neue Ausdrucksformen zu verleihen. In der Entwicklung dieser neuen Erlebniswelt sollte zunächst das Experiment im Vordergrund stehen. Nichts bremst Kreativität mehr, als wenn man sie nur am unmittelbaren ROI misst. Gerade in der Architektur ist es wichtig zu verstehen, dass Gebäude in Verbindung mit digitalen Medien heute viel mehr sein können als physisch gebaute Realität. Sie können zum Beispiel abstrakte Daten in visuelle Erlebnisse übersetzen, die ein ressourcenschonendes Nutzerverhalten unterstützen und damit zu einem neuen neuen Community-Gefühl beitragen. Hier sind kreative Ideen gefragt, um dieses Potenzial auszuschöpfen.

Flow als absolutes Ziel

Denn bei aller technologischer Innovation sollte eines allerdings immer klar sein: Die Technologie muss sich dem Menschen anpassen, nicht umgekehrt. Allem Tun voraus sollten wir uns zudem fragen, wie unsere Gebäude und Mediatektur zu einer nachhaltig gesunden Welt und einem guten Leben beitragen können. Denn was nützen uns hoch technologisierte Gebäude, wenn wir uns darin nicht wohlfühlen? Wie können wir alle Sinne gleichermaßen ansprechen? Wann und wo sollte Technologie so weit im Hintergrund bleiben, daß sie uns nicht vom zwischenmenschlichen Austausch ablenkt? Ein wichtiger Gradmesser ist der Flow, der Augenblick, wenn der Mensch ganz ohne Ablenkung voll und ganz mit seiner Umgebung im Einklang ist. Dann haben wir die perfekte Harmonie zwischen Nutzer:innen und dem intelligenten Raum geschaffen.

Visual: BMW AG